Beim Herrenfriseur
Schräg gegenüber der Wohnung meiner
Großmutter mündete die Dorotheastraße
in die Goethestraße. Beim Blick aus dem
Seitenfenster des Erkers im Wohnzim-
mer hatte man das Kommen und Gehen
dort immer gut im Blick. Ich kann mich
daran erinnern, dass es unten im Eck-
haus auf der südlichen Straßenseite der
Einmündung eine Bäckerei gab.
Etwas weiter südlich, im Abschnitt der
Goethestraße zwischen der Dorothea
Straße und dem Leher Tor, musste ich
damals ab und zu Haare lassen: Dort
hatte auf der östlichen Straßenseite ein
Herrenfriseur sein Geschäft. An einer
Stange an der Hausfassade über der
Eingangstür hing noch ein richtiger
blanker Metallteller. An diesen "Tellern"
konnte man früher schon von weitem
erkennen, wo ein Friseur zu finden war.
Jetzt, wo ich gerade so darüber nach-
denke, habe ich wieder die Bilder vor
Augen, wie es in dem Friseurladen aus-
sah. Die modernen Friseure überlegen
sich heute die coolsten Werbeslogans,
nennen sich "Haircutter", "Hair dressing
Studio" - bloß keine deutschen Voka-
beln verwenden - und hoffen mit futuris-
tischen Ladeneinrichtungen in ihren
"Salons" die Kundschaft anzulocken:
Wenn heute ein Friseur einen solchen
Laden wie den des damaligen Herren-
friseurs in der Goethestraße vorweisen
könnte, dann wäre das mit Sicherheit
der "letzte Schrei".
Dominierend war dunkles Holz. Ich ver-
mute, es könnte sich dabei um "dunkle
Eiche" gehandelt haben. Jedenfalls war
das damals wohl modern. Die Wohnzim-
mermöbel meiner Großmutter waren
ebenfalls in diesem Farbton gebeizt. Für
die Kinder gab es einen Drehhochstuhl.
Der hölzerne Sitz war auf eine dicke ei-
serne Gewindestange montiert, deren
unteres Ende im Gewinde eines hölzer-
nen Dreibeins verschwand. Je nachdem
in welche Richtung der Frisör die Sitz-
fläche drehte, konnte er diese nach oben
bzw. nach unten "schrauben", um die
Köpfe der Kinder mit den Haaren darauf
in eine ihm genehme Arbeitsposition zu
bringen. Für die etwas größeren Kinder
hatte er ein dickes Sitzpolster, das er
auf die Sitzfläche der Stühle für seine
erwachsenen Kundschaft legte.
Die Stühle für die "großen Herren" hatten
eine drehbare Sitzfläche. Diese war mit
einer Achse versehen, die mittig an den
Seitenholmen des Stuhlgestells gelagert,
und vorn und hinten mit einer Art Riegel-
mechanismus arretiert wurde. Bevor der
nächste Kunde auf dem Stuhl Platz
nahm, löste der Frisör die Arretierung
der Sitzfläche und drehte sie mittels
eines an der Achse angebrachten Griffes
einmal mit Schwung um 180 Grad. Auf
der bis dahin untenliegenden - inzwi-
schen unter Ausnutzung der Schwer-
kraft von den abgeschnittenen Haaren
befreiten - Seite des Sitzfläche konnte
der Kunde dann Platz nehmen, während
die Haare seines Vorgängers von der
gerade eben noch oben liegenden Seite
nach unten zu Boden schwebten.
Damals ging ein großer Teil der Kund-
schaft lediglich zum Rasieren in den
Laden des Herrenfriseurs. Während ich
darauf wartete, bis ich an die Reihe kam,
konnte ich dann jedesmal die gleiche
Prozedur beobachten: Zuerst füllte der
Frisör eine Porzellanschale mit heißem
Wasser aus einem kleinen Wasserkes-
sel. Dann rührte er mithilfe eines Stücks
Seife und eines Pinsels in der wasserge-
füllten Schale Rasierschaum an (heutzu-
tage kommt das Zeugs auf unspektaku-
läre Weise fix und fertig aus einer Tube).
Anschließend wurde das Rasiermesser
an einem, wie ich damals vermutete,
Lederband geschliffen. Wenn ich heute
so darüber nachdenke, vermute ich,
dass die Oberfläche des Bandes wohl
zumindest mit einer Art Schleifmittel be-
schichtet gewesen sein wird. Nachdem
alles soweit vorbereitet war, wurde der
Bart des Kunden mit dem vorher ange-
rührten Rasierschaum eingepinselt, den
der Friseur dann mitsamt den Bartstop-
peln mithilfe des scharfen Rasiermes-
sers von der Hautoberfläche abschabte
© Jürgen Winkler