Das Eckhaus Goethestraße 60 (links im
Bild) dominiert mit seinen beiden Erkern
und dem auffällig geformten Dach das
Bild am nördlichen Zugang zum Leher
Gründerzeitquartier. Die trichterförmige
Verbreiterung zwischen der Frenssen-
und der Lutherstraße bildet hier einen
kleinen, dreieckigen Platz.
Irgendwann zeigte das "spitzwinkelige"
Eckhaus erste Anzeichen einer einsetz-
enden Verwahrlosung. Nach und nach
zogen die Mieter aus. Der letzte verblie-
bene Mieter war die Obst- und Gemüse-
handlung Dietzel mit ihren Geschäftsräu-
men im Erdgeschoss. Als sie ihren Kun-
den den Zustand des Gebäudes nicht
mehr zumuten mochte, verlegte sie ihr
Geschäft zur Rickmersstraße.
Nach dem Auszug der Obst- und Gemü-
sehandlung beschleunigte sich der Nie-
dergang des Eckhauses an der Kreuzung
der Goethe- mit der Lutherstraße. Es folg-
te eine langjährige Zeit des Leerstands.
Im Laufe der Jahre erwarb sich das Haus
den wenig schmeichelhaften Ruf der
"Mutter aller Schrottimmobilien". Bei der
Politik und der Verwaltung stand das
Haus bald auf der "Abrissliste": Es hande-
le sich um einen irreperablen Totalscha-
den.
Teile der Fassade lösten sich und stürzten
auf den Gehweg. Die Verwaltung sperrte
den gefährdeten Bereich ab und ließ ein
Gerüst aufstellen, das herunterfallende
Teile abfangen sollte, bevor sie auf den
Boden prallen und zersplittern konnten.
Frost und Feuchtigkeit ließen Spalten im
Bereich der Balkone und des Erkers an
der Ecke des Gebäudes entstehen, in
denen Samen von Sträuchern und Bäu-
men Wurzeln schlagen und wachsen
konnten. Das führte zu weiteren Destabili-
sierungen. Bald begannen sich die Mau-
ern des Erkers an der Eckfassade zu
lösen.
Der nördliche Eingang zum Leher Gründerzeit-
quartier an der Kreuzung der Goethe- mit der
Frenssenstraße
Dass das Haus all die Jahre des zunehm-
enden Verfalls trotzdem mehr schlecht als
recht überstand, war auf das Verhalten
der Eigentümer zurückzuführen, die ihre
Immobilie weiterhin als Spekulationsob-
jekt betrachteten. Der Politik und der Ver-
waltung waren die Hände gebunden. Das
änderte sich erst mit der Einführung eines
Vorkaufsortsgesetzes. Seitdem steht die
Stadt ein Instrument zur Verfügung, das
ihr bei Zwangsversteigerungen den Zugriff
auf verwahrloste Immobilen ermöglicht,
um die Fortsetzung der Spekulationsket-
ten zu unterbinden. Wäre das Gebäude
letztlich dem Abrissbagger zum Opfer
gefallen, dann hätte das den Verlust des
prägenden Objekts am nördlichen Tor
zum Leher Gründerzeitquartier zur Folge
gehabt.
Als Herr Thörner (Investor und Mitglied
der ESG-Lehe) in das Goethe-Quartier
kam, und den Entschluss fasste, von der
Verwahrlosung bedrohte Altbauten aus
der Gründerzeit nach historischem Vorbild
möglichst originalgetreu zu sanieren, ge-
lang es ihm unter anderem auch, die
"Mutter aller Schrottimmobilien" zu
erwerben. Nach Abschluss der inzwischen
weit vorangeschrittenen Sanierungsarbei-
ten beabsichtigt er selbst in eine Wohn-
ung in seinem Haus in der Goethestraße
60 einzuziehen.
So nimmt das Schicksal dieses Hauses
jetzt doch noch eine glückliche Wende.
Damit, dass das Worst-Case Szenario
"Abriss" einmal kein Thema mehr sein
würde, hätte noch vor wenigen Jahren
wohl niemand im Goethe-Quartier ge-
rechnet. Die Entscheidung "Abriss oder
Sanierung" hängt offensichtlich immer
auch davon ab, welchen immateriellen
oder historischen Wert jemand einer dem
Verfall preisgegebenen Spekulationsruine
beimisst, welchen Arbeitsaufwand zu trei-
ben die- oder derjenige bereit ist und wel-
cher finanzielle Spielraum dafür zur Verfü-
gung steht.
Nach Abschluss der Sanierungsarbeiten
werden Menschen in die neuen Wohn-
ungen einziehen, die vielleicht irgend-
wann einmal ihre eigenen Geschichten
über das Leben im Goethe-Quartier er-
zählen. Darüber, wie die Menschen an der
Kreuzung Goethe-/Lutherstraße um die
Mitte des 20. Jahrhunderts lebten, gibt es
beispielhaft eine kleine Geschichte im
Abschnitt "Quartier, Leher Geschichten":
Die Wohnung in der Lutherstraße.